Nachrichten eines Erwachsenen an ein Kind

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

war das Bett meine Höhle,

 

und die Nacht war ohne Ende und schwarz

 

und überall leuchteten Sterne.

 

Das Licht meiner Taschenlampe

 

fraß alle Gespenster,

 

und gegen mein warmes Kissen

 

konnte kein Untier etwas tun.

 

 

 

Heute lass ich die Taschenlampe zu Hause,

 

wenn ich nachts unterwegs bin,

 

und alle Ungeheuer und Gespenster

 

sitzen im Fernseher.

 

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

da wohnten in einem Bleistift

 

Tiere, Blumen und Häuser,

 

Riesen, Zwerge und Autos,

 

Schiffe, Wälder und Seen,

 

und die Wellen des Meeres schlugen

 

bis an den Rand des Papiers.

 

Jedes Blatt war viel zu klein

 

und in zehn Minuten bemalt.

 

 

 

Heute schreib’ ich mit dem Füller

 

„Sehr geehrter Herr Müller..."

 

und die Männchen,

 

die ich auf den Telefonblock kritzele

 

finde ich doof

 

jedenfalls fast alle.

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

da konnte ich alles sein.

 

Seeräuber und Astronaut,

 

Lokführer oder Cowboy,

 

oder der Beamte bei der Post,

 

der alle Marken stempeln darf.

 

Ich war unheimlich stark und schlau,

 

und Superman war mein bester Freund.

 

 

 

Heute bin ich meistens ich selbst.

 

Jedenfalls nicht Astronaut oder Lokführer.

 

Mein bester Freund heißt Otto,

 

und Supermann sieht er gar nicht ähnlich.

 

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

konnte ich mit dem Fahrrad

 

eine Weltreise machen.

 

Hinter jedem Busch lag ein neues Land

 

und hinter jeder Biegung des Weges

 

machte ich eine Entdeckung.

 

Sechs neue Inseln betrat ich als erster

 

an einem einzigen Nachmittag!

 

Und einen feuerspeienden Drachen

 

traf ich hinterm Kiosk.

 

 

 

Heute reise ich mit dem Auto oder dem Flugzeug,

 

und wenn ich etwas entdecke,

 

dann war schon immer jemand vor mir da.

 

Und wie es hinter der nächsten Straßenecke aussieht,

 

weiß ich schon viel zu lange.

 

 

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

da konnte ich fliegen,

 

wenn ich beim Laufen

 

einen großen Schritt machte.

 

Ich wurde leicht wie eine Feder

 

und schwebte einfach durch die Luft.

 

 

 

Heute geht mir die Luft aus,

 

wenn ich so schnell laufe,

 

und das mit dem Fliegen

 

habe ich lange nicht mehr versucht.

 

 

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

da war ich reich,

 

wenn ich eine Münze hatte.

 

Ich konnte mir alles kaufen, was ich wollte,

 

und noch ein Kaugummi dazu.

 

 

 

Heute kann ich mir vieles kaufen,

 

aber so reich wie damals bin ich nicht,

 

und meine Kaugummiblasen

 

werden nicht mehr so groß wie früher.

 

 

 

 

Als ich noch ein Kind war

 

war ich schnell wie der Wind,

 

wohnte im Wolkenschloss

 

und aß mit dem Adler.

 

 

 

Heute wohne ich im Reihenhaus.

 

Manchmal esse ich mit meinem Chef,

 

Herrn Adler, und der macht Wolken

 

Mit seiner Zigarre.

 

 

 

 

 

Als ich noch ein Kind war,

 

konnte ich auf einer großen Wiese

 

auf einem warmen Stein sitzen

 

und zufrieden sein.

 

 

 

Das kann ich noch heute,

 

nur tu ich es viel zu selten.